Wir senden den Betroffenen der Anschläge von Halle, ihren Angehörigen und der jüdischen Gemeinschaft unsere Solidarität und unser Mitgefühl. An der Tat zeigt sich nun einmal mehr, dass Antisemitismus und Rassismus in der neonazistischen Ideologie untrennbar miteinander verbunden sind. Der rechten Hetze wohnt der Mord inne. Was muss noch passieren, damit die Nazis in diesem Land endlich entwaffnet werden?
Der Angriff auf die Synagoge in Halle steht für den jahrhundertealten antisemitischen Hass in Deutschland, der nicht abreißt und jüdisches Leben überall dort bedroht, wo es öffentlich sichtbar wird. Der rassistische Mord im Döner-Imbiss erinnert uns an die NSU-Morde und richtet sich gegen die Gesellschaft der Vielen, zu der auch Juden und Jüdinnen gehören.
Bereits wenige Stunden nach der Tat gehen die Ermittler*innen routiniert von einem »Einzeltäter« aus. Dabei rekurriert der Täter auf ein internationales Netzwerk und Vorbilder wie die Attentäter von Christchurch und Pittsburgh. Die Geschichte des neonazistischen Terrors hat unmissverständlich gezeigt: Es gibt keine rechten »Einzeltäter«. Vielmehr wissen die Täter*innen sich als Teil eines »Netzwerks von Kameraden« – so die Selbstbeschreibung des NSU –, dessen Mitglieder mit ihren Taten weltweit aufeinander Bezug nehmen und die sich damit gegenseitig ermutigen, aktiv zu werden. Und spätestens nach den Ereignissen von Chemnitz wähnt dieses Netzwerk sich in der Offensive.
Der Täter ist auch in seinem antisemitischen Wahn nicht allein.
Antisemitismus ist in der deutschen Gesellschaft schon lange fest verankert und hat verschiedene Ausdrucksformen: Verschwörungstheorien, der unsägliche Wunsch nach einem »Schlussstrich«, die Ethnisierung und Auslagerung von Antisemitismus als Problem der »Anderen«, die Verklärung und Leugnung der Verstrickung der Großeltern und Urgroßeltern in den Nationalsozialismus. Antisemitismus und Rassismus wirken in unseren Institutionen, im Bundestag, in den Behörden, in den Sicherheitsapparaten, in den Schulen, auf der Straße, in den Kneipen, am Küchentisch – und bleiben nach wie vor viel zu oft unwidersprochen.
Wer hier von einem Einzeltäter spricht, leugnet Antisemitismus und Rassismus als gesamtgesellschaftliches und strukturelles Problem und verhindert einen entschiedenen Kampf dagegen.
Ignoriert wird damit auch die Geschichte antisemitischer Gewalt, die immer eine wichtige Dimension des Rechtsterrorismus in Deutschland seit 1945 war. Die Liste antisemitischer Terroranschläge und ihrer Opfer in Deutschland ist lang und weitgehend unbekannt. Wir erinnern stellvertretend für viele mehr an:
- 1980: Ermordung des Rabbiners und Verlegers Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke durch Uwe Behrendt, führender Aktivist der neonazistischen »Wehrsportgruppe Hoffmann«.
- 1992: Mord an der Auschwitzüberlebenden Bianka Zmigrod durch John Ausonius, bekannt geworden als der »Laserman«. Mögliche antisemitische Motive wurden im Prozess ausgeblendet und in der Öffentlichkeit kaum diskutiert.
- Juli 2000: Anschlag in Düsseldorf-Wehrhahn: Sechs jüdische Sprachschüler*innen, insgesamt 10 Menschen, werden (schwer) verletzt; ein tatverdächtiger Neonazi wird 2018 freigesprochen, die Tat ist noch immer nicht vollständig aufgeklärt
- 20. April 2000: Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge
- 2003: Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags auf die Grundsteinlegung für ein jüdisches Kulturzentrum in München durch Martin Wiese (»Kameradschaft Süd«)
Der Antisemitismus der Nazis und des NSU wird von den Sicherheitsbehörden zumeist in routinierter Selbstverständlichkeit aufgezählt. Die Bedrohung jüdischen Lebens ist kaum mehr als eine Fußnote wert. Der Antisemitismus-Bericht des Bundesinnenministeriums von 2017 konstatiert in Bezug auf den NSU lapidar, dass »eine judenfeindliche Einstellung nicht die Opferauswahl motivierte«, ohne diese Tatsache einer weiteren Untersuchung für wert zu befinden. Ob etwa eine solche Opferauswahl nur daran scheiterte, dass jüdisches Leben in Deutschland kaum öffentlich sichtbar ist und zumeist nur hinter Panzerglas und Straßensperren stattfinden kann, scheint den Autor*innen des Berichts gar nicht in den Sinn zu kommen.
Dabei standen antisemitische Taten am Beginn des NSU, ein Aspekt, der bis heute nicht hinreichend aufgeklärt wurde und aus dem keine Konsequenzen gezogen worden sind. Dem Kerntrio und seinem Umfeld werden Friedhofsschändungen, die Störung von Gedenkveranstaltungen an die Shoah sowie Drohungen in Form von an eine Autobahnbrücke und ein Fernwärmerohr aufgehängte Puppen mit »Judenstern« zugeordnet. Kurz vor dem ersten Mord erkannte ein Wachmann der Synagoge Rykestraße in Berlin mutmaßlich Beate Zschäpe beim Ausspähen der Synagoge.
Die Tat in Halle ist Ausdruck der Kontinuität des NSU-Komplexes und der Straflosigkeit neonazistischer Gewalt.
Zu dieser Ignoranz gehört auch, dass Bundespräsident Walter Steinmeier öffentlich erklärt, dass eine solche Tat »in Deutschland nicht mehr vorstellbar schien.« Eine solche Aussage spricht nicht nur den berechtigten Ängsten und Erfahrungen von Jüdinnen und Juden Hohn, die alltäglich mit Antisemitismus konfrontiert sind. Sie offenbart auch die riesige Lücke, die zwischen den abstrakten Bekenntnissen gegen Antisemitismus und Rassismus und der tatsächlichen Wahrnehmung und Bekämpfung alltäglicher Gewalt in Wort und Tat klafft. Und nicht zuletzt ist sie eine vorauseilende Inschutznahme der Sicherheitsbehörden, die einen Schutz der Hallenser Synagoge nicht für nötig erachteten – entgegen der Forderung nach Schutz durch die Jüdische Gemeinde.
Wir fordern...
... eine Sichtbarmachung der Kontinuität des rechten Terrorismus seit 1945 und eine deutliche Herausarbeitung seiner vielfältigen Motivationen: rassistisch, antisemitisch, antiziganistisch usw. sowie ihre enge Verbundenheit.
... eine Aufklärung der Netzwerke und Strukturen, in die Rechtsterrorismus eingebettet ist. Dabei sind ebenfalls staatliche Institutionen in den Blick zu nehmen.
... die Entwaffnung der Neonazis. Der Militarisierung der rechten Szene muss dringend ein Ende gesetzt werden.
... die Verhaftung der fast 500 flüchtigen Neonazis in Deutschland, die mit einem Haftbefehl gesucht werden. Werden sie überhaupt gesucht?
… die Aufdeckung der Netzwerke von Stephan Balliet: Lief auch er in Chemnitz hinter den AfD-Funktionären Björn Höcke, Uwe Junge, Andreas Kalbitz und Jörg Urban und gemeinsam mit den Nazi-Terroristen Uwe Woost und Christian Keilberg (»Revolution Chemitz«) sowie Stephan Ernst und Markus Hartmann, die den Christdemokraten Walter Lübcke erschossen haben?
... eine unabhängige Enquetekommission zur Geschichte des Antisemitismus und antisemitischer Gewalt in Deutschland.
... eine eigenständige Aufarbeitung des Antisemitismus in den Untersuchungsausschüssen zum NSU.
... eine lückenlose Bewachung aller jüdischen Einrichtungen durch Sicherheitskräfte.
...ein Zusammendenken und eine gemeinsame Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus. Betroffene dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Tribunal »NSU-Komplex auflösen«, 10.10.2019