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Hamburg

Gängeviertel-Streit zum achten Geburtstag

Mit deutlichen Worten kritisieren die Künstler und Aktivisten, der Senat blockiere Verhandlungen über ein 75-jähriges Erbbaurecht

Das Gängeviertel am Valentinskamp ist ein Ort der Kreativität. So lautet das Selbstverständnis der dort Aktiven und mittlerweile auch das Vokabular internationaler Reiseführer. Um Besucher nicht zu enttäuschen – wer Kreativität sucht, soll sie auch finden –, haben die Künstler Fassaden und Zäune bunt angemalt, Möbel aus Holzresten gebaut und Schilder schief aufgestellt. Zum achten Geburtstag der legendären Besetzung im August 2009, der an diesem Wochenende gefeiert wird, ergibt sich so ein tatsächlich kreatives, aber politisch brisantes Spiel mit Symbolen: Eine große „8“ wird auf dem Rücken liegend zum mathematischen Zeichen für die Unendlichkeit.

Unendlich. Dieses Wort kommt in der Politik eigentlich nicht vor. Doch die Gängeviertel-Aktivisten fordern es nun ein. Sie wollen den historischen Ort unendlich lange nutzen können. Oder zumindest 75 Jahre. Sie bieten der Stadt 26 Millionen Euro, um für diesen Zeitraum einen Erbbaurechtsvertrag zu bekommen. Die Summe ergibt sich aus der Hochrechnung der aktuellen Mietkosten für ein Dreiviertel Jahrhundert.

Auffällig ist der scharfe Tonfall, in dem die Künstler ihre Forderungen stellen. In einer Pressemitteilung kritisieren sie, die Stadt blockiere seit acht Monaten die Verhandlungen: „Kommen Sie endlich in die Gänge, geben Sie Ihre aktuelle Hinhaltetaktik und Blockadepolitik auf!“ Und die Künstler geben sich kämpferisch: „Wir werden die Zerstörung unseres Projektes niemals zulassen. Die Stadt weiß, wo sie uns findet, denn wir gehen hier nicht weg.“

Dass die Aktivisten mit ihren Forderungen jetzt so vehement auftreten, hat einen aktuellen Hintergrund. Sie sprechen von „Druckwellen nach dem G-20-Gipfel“. Christine Ebeling, Sprecherin des Gängeviertels, sagt: „Es ist unabdingbar, dass das Gängeviertel sowohl dem Markt entzogen als auch vor politischen Schnellschüssen gesichert wird. Das Gängeviertel muss selbstverwaltet in die Zukunft gehen, sonst ist die Gefahr zu groß, dass es eines Tages Machtspielen oder kurzfristigen Profiten geopfert wird.“ Seitdem Hamburg über die Zukunft der Roten Flora diskutiert, ist die Sehnsucht nach Beständigkeit im Gängeviertel also noch größer geworden als zuvor: Einem Mieter kann deutlich leichter gekündigt werden als dem Inhaber eines Erbbaurechtsvertrages. Ob die Politiker sich darauf einlassen werden, ist derzeit allerdings äußerst fraglich. Denn rund um den G-20-Gipfel gab es immer wieder Streit zwischen dem Kreativ-Ort und der Stadt.

Zunächst hatte das Gängeviertel eine Dauerveranstaltung in der gesamten G-20-Woche beantragt. Nachdem dies nicht erlaubt worden war, bildeten die Häuser und Hinterhöfe zumindest einen Rückzugsort für Demonstranten und Geschäftsleute auf der Suche nach einem Mittagstisch. Infopoint, Sanitätsstation und Volksküche ohne Alkoholausschank – das Gängeviertel war während der ereignisreichen Tage Anfang Juli tatsächlich eine Art friedliche Oase. Doch anschließend machten die Aktivisten unmissverständlich klar, dass sie sich voll und ganz mit der Roten Flora solidarisieren, und zogen so den rot-grünen Zorn des Bezirks Mitte auf sich, welcher den kulturellen Betrieb mit geringen Beträgen unterstützt. Nicht der beste Zeitpunkt also, um Forderungen zu stellen. Denn wenn eines nach G 20 sicher ist, dann dies: Die Rote Flora und andere linksalternative Orte haben zurzeit einfach keinen guten Stand.

Der Bausubstanz des seit dem 18.Jahrhundert entstandenen Viertels sind der Gipfel und seine Nachwirkungen jedoch gänzlich egal. Sie verschlechtert sich zusehends. Jeder Monat, in dem nicht saniert wird, kostet die Stadt nach Berechnung des Gängeviertels 6000 Euro. Schon lange ruhen die Arbeiten, obwohl die Stadt 20 Millionen Euro für die Sanierung bereitgestellt und die Aktivisten schon unzählige Stunden ehrenamtlich gearbeitet hatten. Die Künstler und Bewohner werden ungeduldig. Ebeling sagt: „Anfang Januar wurden die ersten Schritte für die weitere zügige Bearbeitung abgesprochen, um die Basis für die weitere Sanierung zu schaffen. Seitdem ist nichts passiert. Nur über Umwege erfuhren wir, dass man erst einmal nicht weiter mit uns verhandeln wollte.“

Die Stadtentwicklungsbehörde will sich mit Verweis auf die „Vertraulichkeit“ der Gespräche nicht zu den Vorwürfen äußern. Behördensprecherin Constanze von Szombathely sagt lediglich: „Die Beratungen zur langfristigen Sicherung der Ziele des Gängeviertel sind noch nicht abgeschlossen. Die Verhandlungen mit dem Gängeviertel werden im Herbst fortgesetzt.“

Noch gehören die Häuser der Stadt. Jährlich gibt es rund 150 Konzerte, sechs internationale Festivals, 40 Ausstellungen sowie Partys, Theateraufführungen, Workshops, Sprachkurse oder etwa Projekte mit Schulen. Bis zu 60 Menschen leben in den bereits sanierten Wohnungen. Außerdem sind Atelier- und Veranstaltungsräume entstanden.

Trotz der ungewissen Zukunft wollen die Kreativen am Wochenende ausgiebig Geburtstag feiern. Bis Sonntagabend stehen Tag und Nacht zahllose Ausstellungen, Konzerte und Lesungen auf dem Programm. Das Angebot reicht von „Karaoke für politische Reden ohne Parteiprogramme“ über „Siebdruck live auf dein Kleid“ bis zu „Angewandte Anatomie in Bewegung“. Immer wieder soll es in Diskussionsrunden darum gehen, den G-20-Gipfel „aufzuarbeiten“.

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