Und dann steht es plötzlich im Raum, das Unwort aller Bewegungen, oft Anfang vom Ende: Spaltung! Gängeviertel-Aktivistin Rita meint zwar keine kreative, geschweige denn menschliche. Dennoch, Matthias, am Rande der Schnappatmung, hebt den Zeigefinger und sucht eifrig Blickkontakt zur Mitstreiterin. Als sie ihren Fauxpas bemerkt, schreiten beide zur inneren Vollversammlung: "Nein, nein", von Spaltung sei keine Rede. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht kurz vorm Geburtstag ihres spaltfreien Projekts, Rita und Matthias sagen: unserer Familie. Das Gängeviertel wird fünf – da soll von Gemeinsinn die Rede sein, von der Zukunft. Auch wenn sie noch so wackelt.

Buchstäblich.

Seit vorigem Herbst nämlich wird das berühmte Kunstquartier am Gänsemarkt generalüberholt. Endlich – das sehen auch Rita und Matthias ein, als sie an diesem regnerischen Augusttag in den denkmalgeschützten Gebäudekomplex am Valentinskamp laden, um ihn gründlich zu erklären. Nach Jahrzehnten struktureller Vernachlässigung drohte dem kümmerlichen Rest innerstädtischer Arbeiterbehausungen der Freien- und Abrissstadt Hamburg schlicht der Einsturz.

Um das zu verhindern, investiert sie in acht Jahren 20 Millionen Euro, mit denen aus dem chaotischen Kulturzentrum ein modernes Kreativquartier aus Wohnen, Ateliers und Gewerbe entstehen soll. Klingt doch eigentlich bestens für das Viertel und seine Vereinsmitglieder – nach einer Perspektive, die im August 2009 nicht einmal ansatzweise zu erkennen war.

Das Kunstprojekt basiert auf dem Prinzip Selbstausbeutung

Damals wurde das abbruchreife Ensemble von 200 Kulturschaffenden aus der Off-Art-Szene besetzt. Es begann eine Erfolgsstory, von der die artverwandte Flora nur träumen kann. Unterstützt durch die globale Kunstszene samt Weltstars wie Daniel Richter, von bürgerlichen Kreisen, ja selbst ranghohen Lokalpolitikern galt das illegal eroberte Terrain als Beispiel alternativer Selbstermächtigung in lukrativer Citylage. Verträge wurden geschlossen, Visionen verwirklicht, die New York Times pries eine gelebte Utopie, der die UNESCO das Prädikat "Ort kreativer Vielfalt" verlieh. Da schien also mal eine Graswurzelbewegung Früchte zu tragen. Und jetzt – Spaltung.

Zunächst mal räumlich gesehen.

Das Wesen des Viertels und der Kunst allgemein ist Bewegung. Wenn aber erst mal die Bagger rollen, könnte es etwas zu viel Veränderung geben. "Wir wollten den Charme erhalten", sagt die bonbonbunt gekleidete Rita über das eingerüstete Kulturzentrum ringsum: das Wilde, Rohe, Organische. Da sich Bezirk und Behörden jedoch weder um Denkmalschutz noch Vereinswünsche scherten, "wird uns eine Standardsanierung übergestülpt".

Gängeviertel-Aktivisten: Rita und Matthias © Jan Freitag

Und nicht nur das: In der Vorbereitung sei vereinbart worden, Fabrik und Jupi-Bar nacheinander zu sanieren. Die Stadt aber tat das Gegenteil. Nun liegen mit den zwei wichtigsten Veranstaltungsräumen die Haupteinnahmequellen brach. "Wir sind etwas gelähmt", sagt Rita. Und atmosphärisch gespalten, seit die Partyzone in eine Halle am Oberhafen ausgelagert wurde. Gerade im Winter werde es da schwer, "die Energie aufrechtzuhalten".

Dank genossenschaftlicher Strukturen, langfristiger Verträge und des großen Zusammenhalts stelle sich für das Projekt im Ganzen zwar "nicht die Existenzfrage", beteuert ein Vereinschef, der so gar keinem Klischee vom Künstler entspricht. Im Kleinen allerdings basiert auch dieses Projekt auf dem Prinzip Selbstausbeutung. Dafür sind Rita und Matthias zwei Beispiele. Zwei willkürlich gewählte, werden sie nicht müde zu betonen, keinesfalls repräsentativ also. Aber eben doch beredte. Matthias, dessen Nachname im Kontext übergeordneter Gruppenideale keine Rolle spielen soll, hat neben seiner Tätigkeit als Vereinsvorsitzender ja noch ein Restleben. Doch weder für sein Masterstudium noch den zugehörigen Broterwerb als Sozialarbeiter wendet der 30-Jährige auch nur annähernd so viel Zeit auf wie für das Viertel.