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Hamburg Gastkommentar

Trau dich, Hamburg!

Eine Stadt im Spagat zwischen Tradition und Kreativität

Ach, mein Hamburg, schwärmen die einen: Hafencity, Elbphilharmonie, Michel, Reeperbahn, Alster, Elbe und die "quirlige" Schanze. Ach, mein Hamburg, tönen die anderen, du warst mal wild und schmutzig, Beatles, Star Club, Onkel Pö, Hafenstraße. Heinz Karmers Tanzcafé, Rote Flora. Der Schnee war weißer, die Engel flogen tief. Wir hatten Luft zum Atmen und Räume zum Durchdrehen.

Ach, Hamburg, du bist eine graue alte Haut ohne Poren geworden, stöhnten dieselben. Nichts atmet, kein Puls, kein Pils, nur Verbote und Regelwut. Und nettes Entertainment für die gebildete Wissensgesellschaft, die vor den Toren der Stadt schon mit den Hufen scharrt. Was ist dran am gemeinen Gemurre? Macht Hamburg nichts für die Bürger, wie der "Spiegel" schreibt?

Oder ist Ikea in der Großen Bergstraße ebenso wie das vorläufige Scheitern der St. Pauli Music Hall nicht gar bürgergewollt? Aber ist der Bürgerwille plangebend, was bleibt uns dann an Vision? Wollen wir das, was der Bürger will? Möchten wir Konsensentertainment für Lloyd-Schuh-Träger? Gestatten wir Jazz für Bildungsbürger? Wollen wir Oper für Faltenröcke? Ja, genau, auch das. Aber Hamburg braucht mehr, um sich von München zu unterscheiden, denn in Hamburg steht es für Künstler und Künstlerinnen, Publikum, Nachwuchs und Jugend Spitz auf Knopf.

Das ist so, weil Experimente, die das Überraschende, Chaotische, Oppositionelle, Eigenwillige in Bewegung setzen und aus denen große Ideen wachsen können, Mangelware sind. Denn diese Experimente, die aus den Szenen selbst kommen und künstlerisch wie politisch für Bewegung sorgten und sorgen, sind Projekte, die Hamburg farbig, interessant und charakteristisch machen und die es aber auch gleichzeitig fürchtet. Unsere kulturellen Projekte brauchen bezahlbare Freiräume, Versuchsfelder, Arbeits- und Veranstaltungsräume, die Lärm und Schmutz vertragen, und zwar ohne thematische Vorgaben, in sogenannen Kulturschutzgebieten und nicht nur im Ausgehbezirk Mitte. Dieser Aspekt hätte auch bei der Erarbeitung eines Nutzungskonzepts der Alten Rinderschlachthalle berücksichtigt werden dürfen.

Die Einbeziehung von Kulturschaffenden und ihren Institutionen in die Überlegungen zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Perspektiven ist dabei allerorten ein Muss.

Denn es gilt, den öffentlichen Diskurs über die Arbeitsbedingungen der sogenannten Creative Class und ihrer Künste transparent zu führen. Hamburg muss, im Übrigen ebenso wie Berlin, die Notwendigkeit einer solchen Auseinandersetzung mit prekären Arbeitsbedingungen thematisieren, und die oft fehlende Finanzkraft der Künstler fordert auch in Hamburg neue Lebensentwürfe heraus, denn es ist nicht etwa der verkümmerte Ton oder das Bankkonto des Künstlers allein, die künstlerische Armut manifestieren, sondern vielmehr das Gros der zur Verfügung stehenden Strategien und Tatsachen. Denn die Kunst verarmt mithin auch in Hamburg genau dort, wo sie ihr Potenzial nicht ausschöpfen kann, ihre Möglichkeiten nicht realisieren kann, weil der Creative Class die Mittel fehlen, der Markt sie behindert und ihr die gesellschaftliche Anerkennung versagt bleibt.

Ästhetische Autonomie bedeutet heute stärker denn je, dass man als Künstler Unabhängigkeit mit Armut bezahlt. In Hamburg kaum lebbar, denn hier ist Raum rar und teuer. Deshalb müssen neue Konzepte der Kulturförderung diese wirtschaftlichen Unwägbarkeiten berücksichtigen, denn die aktuelle Flucht der Künstler in die Privatheit oder eben nach Berlin lesen wir als trotzige Abwehrhaltung gegen einen Kunstbetrieb, in dem schräge Töne aufgrund schlechter Vermarktbarkeit nur schlechte Chancen haben, adäquat vom Publikum wahrgenommen zu werden, denn sie bleiben ebenso wie der Künstler selbst: außen vor.

Künstler und Kreative erwarten deshalb von der Kulturpolitik auch den politisch gesicherten Bestandsschutz für etablierte Kultureinrichtungen vor weiteren Vollsortimentern, Büroflächen oder Hochglanzbauten, damit die Erhitzung des kreativen Klimas in Hamburg nicht zu einem Flächenbrand wird und damit einen Beitrag zur Flucht derjenigen leistet, die wir in Hamburg so schätzen. Und dazu gehören die Akteure der Kreativwirtschaft, die gleichzeitig des Brückenschlags vom Kulturgut zum Wirtschaftsgut bedürfen.

Aber eben auch die Akteure in nicht kommerziellen Tätigkeitsfeldern. Und das sind oft diejenigen, die besonders authentisch, überraschend und oppositionell sind. Hamburger Künstler und Kreative, die eine würdige und freie Brutpflege nach den ihnen eigenen angemessenen und offenen Kriterien benötigen, und Projekte wie Hanseplatte, Gängeviertel, Centro Sociale, Ding Dong, Pudel Art Basel, Park Fiction, Operation Ton, Kampnagel oder Dockville. Trau dich, Hamburg!

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