Ein Rad wird zum Büro – Seite 1

Wer in Hamburgs historischem Gängeviertel in der Caffamacherreihe durch die große Fensterfront in den hellen Raum von XYZ Cargo blickt, sieht überall aufgebockte Lastenräder. Eins steht ganz klassisch im Schaufenster, weitere vier stehen übereinander oder hochkant an der Wand. Sie mussten Platz machen für das neueste Modell: ein Lastenradtruck, der in der Mitte des Raumes thront. Die schwarzen Aufbauten lassen seinen späteren Einsatz bereits erahnen. Er wird ein mobiles Restaurant – mit Dach, Spüle, Kühlschrank und auf Wunsch auch mit Ofen.

Till Wolfer hat den Truck zusammengebaut. Er ist Mitglied des internationalen Künstlerkollektivs N55, das seit Jahren nachhaltige und zukunftsweisende Fahrzeuge entwickelt. Unter anderem hat N55 vor sechs Jahren die XYZ-Cargobike-Reihe kreiert. Das sind Lastenräder, lokal produziert in Hamburg, wahlweise mit oder ohne Motor. Der vierrädrige Lastenrad-Lkw ist das jüngste Modell in der Reihe, ihn gibt es nur mit Motor.

Für Wolfer ist das Fahrzeug ein konsequenter und nachhaltiger Autoersatz: "Es ist perfekt geeignet für Gewerbetreibende, die sonst mit Sprintern unterwegs sind", sagt der 35-Jährige. Das ist allerdings nur ein Aspekt für den Künstler. Er will mehr. Der neue Schwertransporter soll eine Diskussion in Gang setzen: Wolfer und seinen N55-Kollegen geht es um die Platzverteilung in der Stadt.

Viele Gratisparkplätze, wenige bezahlbare Büros

Seit Jahren setzt sich das Kollektiv kritisch mit der Nutzung des öffentlichen Raums auseinander, immer wieder weisen die Künstler mit Aktionen auf Missstände hin. Im vergangenen Jahr etwa haben sie vier ihrer XYZ-Cargobikes mit je einer Plattform aus Kunstrasen versehen. Mit den "Parkcycles" fuhren sie in die Hamburger Wandelhalle, die große Halle des Hauptbahnhofs, und schoben die Räder so aneinander, dass eine große Kunstrasenfläche entstand.

"In der Wandelhalle gibt es keine Sitzgelegenheit", erläutert Wolfer. Wer sich setzen will, muss dafür in einem der vielen Cafés und Restaurants etwas kaufen. Aber den Besuchern der Wandelhalle fehlen offensichtlich Sitzgelegenheiten, denn schon nach kurzer Zeit saßen laut Wolfer 20 Menschen auf dem Kunstrasen. "Wir wollten zeigen, dass öffentlicher Raum auch anders genutzt werden kann als für rein kommerzielle Zwecke", sagt er. In Hamburg hat das funktioniert – kostenlose Sitzplätze gibt es in der Wandelhalle aber immer noch nicht.

Mit dem Lastenradtruck hat das Künstlerkollektiv bereits ähnliche Ideen in Planung. Als sogenannte Roomcycles könnten die Räder zeitweise zum – zugegeben kleinen –Wohnraum werden. Mit 2,35 Metern Länge und 1,25 Metern Breite ist der Truck ein Riese, zumindest in der Fahrradwelt.

Besonders attraktiv findet Wolfer die Idee des mobilen Büros. Bezahlbare Büroräume sind in den Zentren vieler Großstädte mittlerweile kaum zu finden. Parkplätze hingegen sind vielerorts immer noch kostenfrei oder extrem günstig. Für den Hamburger Künstler ist es absurd, wenn Städte ihren Bewohnern keinen Platz zum Arbeiten anbieten können, Autos aber 23 Stunden am Tag Flächen in exklusiver Lage in der Innenstadt belegen. Hier stößt der Fahrradtruck in eine Lücke. "Lastenräder dürfen auch auf Autoparkplätzen oder auf breiten Fußwegen stehen", sagt Wolfer. Theoretisch sei es also möglich, mobile Büros in exklusiver Lage zu parken und dort zu arbeiten.

Rahmen aus Vierkantprofilen

Parkcycle Swarm von N55 & Till Wolfer © PARKCYCLE SWARM – by N55 & Till Wolfer

Zwar ist der Schwertransporter immer noch kleiner als der kleinste Smart, aber er wirkt größer und fasst mehr. Vier Personen mit maximal 400 Kilogramm Gewicht passen auf das Fahrrad. Ohne Aufbauten kann man zwei Europaletten nebeneinander auf die Ladeflächen legen. In Deutschland darf man mit ihm nicht mehr auf den Radweg fahren.

Jedes Modell ist eine Spezialanfertigung, denn die Aufbauten stellt N55 nach Kundenwünschen individuell her. Auf der Liste stehen zurzeit unter anderem mobile Varianten eines Restaurants, einer Bibliothek und eines Aquariums. Offenbar haben die Künstler mit ihrem Fahrradtruck eine Marktlücke entdeckt. Obwohl die Cargobike-Branche seit Jahren spürbar expandiert und die Hersteller permanent neue Modelle vorstellen, bekommt die kleine Werkstatt von Till Wolfer viele Anfragen. Ein großer internationaler Versender beispielsweise wollte mehr als zwei Dutzend Modelle bestellen, um die Fahrzeuge in Rom zu testen.

Mit der Angabe "400 Kilo Zulast" hat das Kollektiv einen Meilenstein gesetzt. Das Gewicht ist für ein Fahrrad extrem anspruchsvoll und fordert die Bestandteile. Die Laufräder mit den Felgen und Speichen sind bei dem Truck so verstärkt, dass sie eher Mofa-Komponenten entsprechen als Fahrradtechnik. Die Rahmen aller XYZ-Cargobikes bestehen aus Vierkantprofilen. Statt geschwungen und geschweißt sind die Rahmen eckig und werden von Schrauben, Muttern und Unterlegscheiben zusammengehalten – für den Betrachter ein ungewohntes Bild.

Foodtruck von N55 & Till Wolfer © FOOD TRUCK – von N55 & Till Wolfer

Die Frage "Hält das überhaupt?" gehört seit Langem zu Wolfers Alltag, wenn er mit dem Rad durch Hamburg fährt. Er erklärt dann stets: "Jede Brücke und jedes Flugzeug sind geschraubt." Die Verbindungen der XYZ-Rahmen werden nach dem Prinzip des Tschechenigels zusammengehalten. Das ist eine Panzersperre, die extremem Druck standhält, weil drei Profile über Kreuz windschief miteinander verbunden sind. "Die Schrauben muss man auch nicht dauernd nachziehen, sie halten sich gegenseitig in Form", ergänzt Wolfer.

Ein Konstruktionsteil fehlt dem Tüftler jedoch noch beim Fahrradtruck. Damit das Cargobike alltagstauglich ist, will Wolfer ihm noch eine Fahrerkabine spendieren. Denn wer beruflich acht Stunden täglich mit dem Rad unterwegs sei, brauche einen Wetterschutz. Auch fürs mobile Büro am Straßenrand.